Hindernisse oder Orientierungspunkte?
Auf meinem Arbeitsweg begegneten mir einmal lebensgrosse menschliche Silhouetten aus Eisen. Sie waren wie Hindernisse entlang dem breiten Trottoir aufgestellt – man musste sich an ihnen vorbeischlängeln. Offenbar ein Kunstprojekt der Stadt. Beim Näherkommen entdeckte ich kurze Texte auf jeder der Figuren.
Kurze, zum Nachdenken anregende Zitate von körperlich eingeschränkten Menschen sollten die Passanten für deren Situation in unserer getriebenen, auf Daueroptimierung ausgerichteten Gesellschaft sensibilisieren.
Das Zitat einer Blinden löste bei mir eine Frage aus: «Sind die Hindernisse in meinem Leben nicht auch – oder sogar in erster Linie – Orientierungspunkte?»
Alles eine Frage der Perspektive. Wenn ich glaube, auf dem richtigen Weg zu sein, rasch vorankommen und mein Ziel erreichen will, erscheinen mir Löcher oder Baumstämme auf der Straße als Hindernisse. Sie mindern mein Tempo, zwingen mich zu Umwegen und bergen sogar Verletzungsgefahr.
Für einen blinden Menschen besteht diese Verletzungsgefahr auch. Aber da er sich seiner „Einschränkung“ bewusst ist, ist er auch viel achtsamer unterwegs. Er geht langsam und vorsichtig und nutzt vielleicht einen Stock oder Begleithund, die ihn auf das Hindernis hinweisen. Bäume, Zäune, Hausecken und Laternen sind für ihn aber auch Hinweise, an denen er sich ausrichten und orientieren kann.
Sie weisen ihn darauf hin, dass jetzt eine Kursänderung nötig oder sinnvoll ist. Durch sein Ausweichen vermeidet er nicht nur eine Kollision und Verletzung. Es ermöglicht ihm vielleicht auch, überraschende Ziele zu erreichen, die er gar nicht gesucht hat. Seine Blindheit ermöglicht ihm das Finden, ohne zu suchen.
Was, wenn unsere eigene Blindheit gegenüber dem, was das Leben für uns bereithält, das wir aber aus Angst und Zweifeln nicht aktiv suchen, eine Chance ist?
Eine Chance, zu finden, was jetzt gerade richtig für uns ist? Was, wenn die Hindernisse Wegweiser sind.
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